Montag, 18. Februar 2008

Freitag/Samstag/Sonntag, 15./16./17.02.2008. Camden/Holloway/Clerkenwell.

Es ist Freitagabend und niemand hat Lust, auszugehen. Einen Freitagabend alleine auf seinem Zimmer zu verbringen, obwohl es einen eigentlich hinaus ins Nachtleben treibt, ist immer deprimierend. Einen Freitagabend aber in London alleine auf seinem Zimmer zu verbringen, obwohl man tanzen gehen will, ist angesichts des reichen Angebots an Clubs noch schlimmer. Um meiner ersten Depression zu entgehen, mache ich mich schließlich alleine auf den Weg. Mein Ziel ist das KOKO in Camden, in dem jeden Freitag der „Club NME“ mit Livebands und Indiemusik stattfindet. Der Club ist groß genug, um nicht weiter aufzufallen, wenn man alleine in der Menge steht. Denn wenn schon alleine weggehen, dann bitte nicht noch offensichtlich verloren und auf sich allein gestellt in der Gegend herumstehen.
Ich bin noch keine zehn Minuten im Club, als plötzlich Matthew vor mir steht. Matthew sieht ein bisschen aus wie eine Mischung aus Mike Skinner und Pete Doherty - ich stehe überhaupt nicht auf ihn. Er erzählt mir, dass er mit seinen 20 Jahren bereits eine eigene Firma besitzt, irgendwann mal irgendwo als einer der jüngsten Firmengründer Großbritanniens genannt wurde, 100 000 Pfund im Jahr verdient und einen BMW fährt. Alle zwei Minuten schaut er auf sein Handy (es könnte ja schließlich auch nachts um halb zwölf noch jemand geschäftlich anrufen) und als er dann noch seinen Schal ablegt und darunter eine silberne Halskette zum Vorschein kommt, ist er endgültig bei mir durchgefallen. Nun gut, solange er die Getränke zahlt, ist es in Ordnung, denke ich mir und versuche nebenbei seinen peinlichen Tanzstil zu ignorieren und dass er mir George Michael und Elton John als seine Lieblingsmusiker genannt hat (aber nein, schwul ist er leider nicht). Die Getränke werden natürlich stilecht mit Kreditkarte gezahlt, als er dann aber versucht, in den VIP Bereich zu kommen und dem Türsteher dafür Geld bietet, bin ich langsam etwas peinlich berührt. Ich widme mich den New Cassettes wieder zu, die mich im Gegensatz zu der ersten Band, Glasvegas, wenigstens bei Laune halten, und mache mich nach den Konzerten schleunigst und zum Leidwesen Matthews, der ja nun den ganzen Abend über quasi umsonst in mich investiert hat, aus dem Staub.

Samstagmorgen bemerke ich, dass mittlerweile auch mein letztes Ei und damit der gesamte Karton aus dem Kühlschrank verschwunden ist. Ein allmorgendlicher Kühlschrankcheck, um die kriminellen Energien meiner Mitbewohner zu dokumentieren, ist mittlerweile schon zur Routine geworden. Ich fasse also zusammen: Ich wohne zusammen mit Alice, dem stereotypischen britischen Mädchen aus dem rauen Norden, deren beste Freundin Amy, die eigentlich auf einer ganz anderen Etage in einer ganz anderen Wohnung wohnt, sich bereits seit geraumer Zeit bei uns einquartiert hat (inklusive Matratze), Simon, einem Belgier, der sich wohl mehr seiner House Musik statt dem Studium verschrieben hat, seinen allabendlichen, doch akustisch sehr stark vernehmbaren DJ-Tätigkeiten in seinem Zimmer nach zu urteilen, und Luke, einem Jungen aus Essex mit scheinbar leicht pädophilen Neigungen, schaue ich mir die einzelnen Mädchen an, die er jeden zweiten Tag mit nach Hause bringt.

Am Abend geht es zu „Brainwashed“ nach Clerkenwell. Als wir ankommen, macht der Sänger der Klaxons vor der Tür gerade ein wenig Randale. Da die offizielle Afterparty der Horrors, die im Astoria spielen, in die heutige Ausgabe von „Brainwashed“ eingebettet ist und Teile der Band später selber noch als DJs auflegen werden, sieht das Publikum dementsprechend aus. Überall laufen Gestalten mit sehr akkuraten, pechschwarzen Frisuren und Kajal untermalten Augen herum. Düstere Tiki- und Psychedelic-Klänge erfüllen den Raum und ich kann mich dem Gefühl nicht entledigen, in einer absoluten Freakshow gelandet zu sein! Seltsamerweise scheint die Epicurean Lounge an diesem Abend einer der Treffpunkte in London zu sein. Neben den bereits erwähnten Personen tauchen auch Pixie Geldof (die Tochter von Bob Geldof, in England auch gerne als It-Girl betitelt) und Bobby Gillespie noch auf, dessen Anwesenheit einen meiner Begleiter als Primal Scream Fan in große Verzückung versetzt.

Den Sonntag beginne ich das erste Mal seit meiner Ankunft mit einem klassischen englischen Frühstück, wenn auch zugegebenermaßen in der vegetarischen Variante. Das englische Essen mag zwar einen enorm schlechten Ruf haben, aber als Katerfrühstück sind gebackene Bohnen mit Champions und Spiegelei auf Toast unschlagbar! Aufgrund des blauen Himmels, entschließe ich mich, noch einmal ins Zentrum zu fahren und ein bisschen spazieren zu gehen, vielleicht verschwinden dann ja auch noch die Kopfschmerzen. Am Trafalger Square gerate ich plötzlich in eine riesige Menschenmenge, die rote Fahnen schwängt und von einem nicht enden wollenden Autokorso hupend unterstütz wird. Der ganze Platz ist eingenommen von feiernden Menschen. Ich frage einen neben mir stehenden Mann mit Fotoapparat, was denn los sei und er erklärt mir, dass der Kosovo letzte Nacht seine Unabhängigkeit erlangt hat. Angesichts der Szenerie auf dem Trafalger Square, muss der Kosovo heute allerdings sehr leer sein.

Montag, 11. Februar 2008

Montag, 11. Februar 2008. Holloway.

Meine dritte Woche als Londonerin hat begonnen. Und wie hätte ich sie besser begrüßen können als mit einer Pub-Tour? Wir starten den Freitagabend also einmal wieder in Bradley’s Spanish Bar abseits der Oxford Street. Die wundervolle Jukebox, die noch originalgetreu mit Vinyl-Singles bestückt ist, lässt uns auch an diesem Abend nicht im Stich und spielt prompt die Kinks. Danach geht es weiter nach Camden, zuerst in den Good Mixer und dann ins The Hawley Arms, einen wunderschönen, gemütlichen Pub, der über mehrere Etagen führt und neben einem sehr sympathischen Publikum eine Dachterrasse zu bieten hat, die einen von Lichterketten unterstrichenen Blick über Camden gewährt. Nach einigen Drinks und einem Abendessen in einer Tapas Bar, finden wir uns irgendwann mitten in der Nacht auf der Millennium Bridge wieder und bewundern das Lichtermeer auf- und abwärts der Thames. Es ist fast unglaublich, wie ruhig und friedlich diese Stadt sein kann und ich hoffe innerlich, niemals den Sinn für diese Schönheit zu verlieren, wie lange auch immer ich hier leben mag. Während Big Ben auf der anderen Seite des Ufers zwölf schlägt, schlendern wir langsam vorbei an Tate Modern und London Eye in Richtung Westminster Bridge, um einen Bus zurück nach Charing Cross zu nehmen.

Am nächsten Morgen ist plötzlich der Frühling ausgebrochen. Ich schaue in einen strahlend blauen Himmel und verwerfe angesichts dessen meine Pläne, den Tag mit Lernen zu verbringen. Es scheint der perfekte Zeitpunkt zu sein, dem Highgate Cemetery endlich einmal einen Besuch abzustatten, also mache ich mich in der Tube auf den Weg nach Archway. Die Straße, die zum Friedhof führt ist gesäumt von Zäunen und Toren, die die dahinter liegenden, allem Anschein nach von der gehobenen Klasse bewohnten Estates vor dem Eindringen Unbefugter schützen. Die Häuser sind riesig und während ich in der ferne einen kleinen Jungen auf seinem Dreirad die ruhige Straße entlang fahren sehe, wird mir klar, dass die Klassenunterschiede hier doch noch um einiges dominanter sind. Wie für alles in London, muss ich natürlich auch für das bloße Betreten des Highgate Cemetery zahlen. Drei Pfund werden mir abgenommen, die anscheinend nicht unbedingt in die Pflege des Friedhofes investiert werden. Einige Skulpturen sind bereits von ihren Gräbern gefallen und zum Teil gleicht es im verzweigten Dickicht einer Müllhalde. Aber selbstverständlich ragt Karl Marx als das Herzstück des Friedhofes bestens poliert und in Schuss gehalten zwischen all den schiefen und umgestürzten Steinen heraus.


Am Abend geht es zu „Mousetrap“, einem Soul und R’n’B Allnighter in Finsbury. Wir legen einen kleinen Zwischenstopp in einem Pub in Angel ein, bevor wir irgendwann nach Mitternacht am falschen Ende der Seven Sisters Road stehen. Während ich vorschlage, von der gegenwärtigen Hausnummer 700 bis zu unserer Zielnummer 259 einfach zu Fuß zu gehen, scheint meine Begleitung von dieser Idee eher nicht angetan. Abgesehen davon, dass uns noch mehr als 400 Hausnummern von dem Club trennen, ist die Ecke um Seven Sisters und Finsbury nicht gerade für ihre Sicherheit zu jener Stunde bekannt, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Angesichts der Tatsache, dass wir komplett allein an der Straße stehen und auch keine kleinen Off-Licence Shops mehr zu sehen sind, beschließen wir, unseren Gang etwas zu beschleunigen und an der nächsten Haltestelle doch auf den Bus zu warten. Tatsächlich kommen wir schließlich im Orleans an und eine Person von uns beiden scheint sichtlich froh, noch unversehrt zu sein.
Nach nur fünf Stunden Schlaf, einem Rauschen in den Ohren und Restalkohol im Blut schreit es geradezu nach einem englischen Frühstück. Und da es natürlich viel zu langweilig wäre, den Lunch im Pub um die Ecke einzunehmen, fahren wir nach Spitalfields. So viele Menschenmassen ertrage ich in meinem Zustand normalerweise nicht, aber der allsonntägliche Markt und die umliegenden Vintageläden lassen meine Kopfschmerzen sofort verschwinden.
Am Abend verschlägt es mich dann noch einmal ins Nachtleben. Normalerweise würde ich wohl nicht alleine ausgehen, erst recht nicht in einen Pub und das auch noch an einem Sonntag, aber welche Alternative hat man schon, wenn man als Neuling in dieser Stadt fast auf sich alleine gestellt ist? Im Filthy McNasty’s zwischen King’s Cross und Angel findet an einem Sonntag im Monat ein Jazzclub statt, zu der mich eine MySpace-Bekanntschaft eingeladen hat, die genau jenen Club betreibt. Ich stelle mich an die Bar, bestelle erst einmal einen Gin Tonic und versuche, nicht allzu verloren auszusehen zwischen all den Menschen, die sich anscheinend bestens kennen. Nachdem ich meine Internetbekanntschaft identifiziert habe, werde ich sofort einer deutschen Freundin vorgestellt und verbringe die folgende Stunde damit, mich – sehr zum Leidwesen ihres schottischen Freundes - auf Deutsch zu unterhalten. Da haben wir einmal mehr die sooft erwähnte Problematik, wie schwer es ist, in London Einheimische kennen zu lernen.
Auf dem Rückweg fällt mir eine blinkende Anzeigentafel am Rand der Straße auf, die darauf hinweist, dass Chalk Farm Road aufgrund eines Feuers in Camden gesperrt ist. Einen Tag später muss ich erfahren, dass neben dem Camden Market auch das Hawley Arms den Flammen zum Opfer gefallen ist und ich mich wohl glücklich schätzen kann, am Freitag die letzte Nacht dort verbracht zu haben.

Freitag, 8. Februar 2008

Donnerstag, 7. Februar 2008. Holloway.

Ich stehe senkrecht im Bett. Dem schrillen Ton nach zu urteilen steht eine Ambulanz der NHS mit Blaulicht direkt in meinem Zimmer. Aber stopp. Kurz reflektiere ich und mir fällt wieder ein, dass wöchentlich um elf Uhr der Feueralarm getestet wird. Natürlich ausgerechnet immer am Donnerstag, meinem einzigen unifreien Tag in der Woche. Nachdem der Test nach dreimaliger Wiederholung des Alarms wohl positiv verlaufen ist, begebe ich mich in die Küche. Nur ein Glas Saft soll es sein, im Schrank entdecke ich jedoch kein einziges meiner Gläser. Langsam wandert mein Blick über das dreckige Geschirr, das sich neben der Spüle stapelt. Und tatsächlich, inmitten des Chaos stehen meine Gläser. Auch der große Messbecher, in dem eine undefinierbare braune Flüssigkeit über Nacht erste Anzeichen eines Eigenlebens entwickelt hat, kommt mir leider sehr bekannt vor. Ich versuche mir einzureden, dass es doch völlig okay ist, wenn die anderen mein Geschirr mitbenutzen, solange sie es wieder abwaschen und zurück in den Schrank stellen. Irgendwie finde ich aber auch, dass sie zumindest hätten fragen können. Nein, für ein WG-Leben bin ich ganz offensichtlich nicht geschaffen. Das ist mir bereits vor ein paar Tagen klar geworden, als jemand seine Wurst in meinem Kühlschrankfach platziert hatte und nachdem ich meine Kleidung in der Waschmaschine gewaschen und sie kurze Zeit später bereits aufgehängt auf dem Wäscheständer vorgefunden hatte. Eine nette Geste, mag man meinen, aber zu meinem Schrecken war es nicht Alice, die sie aufgehängt hatte, und da wir die einzigen weiblichen Bewohner dieser Wohnung sind, muss es ergo einer der Jungs gewesen sein. Nach 17 Monaten Singlehaushalt bin ich wohl doch pingeliger geworden als angenommen.
Aber ich möchte mich gar nicht weiter beschweren, sonst nimmt das am Ende noch Formen an wie bei einer meiner deutschen Mitstudentinnen, die mir in unserem ersten Gespräch sofort erzählt hat, wie sie beim Anblick ihres Zimmers im selben Wohnheim in Tränen ausgebrochen ist und dass ihre Mutter, die zugegen war, ihr gleich bescheinigt hat, dass das Zimmer nicht größer sei als die Gästetoilette daheim in München.


Am Abend nehmen mich Alice und ihre Freundin Amy mit zum Movie Table Quiz in der Student Union, der Rocket Bar auf der Holloway Road. Ich habe noch nie zuvor in meinem Leben an einem Table Quiz teilgenommen, obwohl wahrscheinlich jeder English und Irish Pub in Deutschland seinen festen Movie Table Quiz-Tag in der Woche hat. Während Alice und ihre Freundinnen, die im Übrigen fast ausnahmslos dem Stereotypen des britischen Mädchens entsprechen - etwas kräftiger gebaut, laut und leicht prollig – eine Antwort nach der anderen auf den gelben Zettel schreiben, muss ich feststellen, dass mein Wissen im Bereich Film wohl auch irgendwo in den frühen bis mittleren 70er Jahren stehen geblieben ist. Von der Hälfte der Filme habe ich noch nie gehört, den absoluten Großteil nie gesehen. Die anderen sind angesichts so viel Filmunkenntnis leicht geschockt, so scheint mir. Am Ende verfehlen wir den Sieg um nur einen Punkt und gehen leider ohne die Flasche Wein und den HMV-Gutschein im Wert von 60 Pfund nach Hause.
Später habe ich dann noch das zweifelhafte Vergnügen, alleine mit meinem Mitbewohner Luke in der Küche zu stehen. Abgesehen von einem kurzen Hallo haben wir bisher noch nicht miteinander kommuniziert, also geht er wieder los, der obligatorische „Wo kommst du her, was machst du, wie gefällt es dir?“ - Smalltalk. Und dann das: „Bist du Single?“ Bitte was, habe ich das gerade richtig verstanden? In der Tat, das habe ich. Nicht unbedingt eine Frage, mit der man zu diesem Zeitpunkt des gegenseitigen Kennens rechnet, aber in Anbetracht der WG-Umstände, die einem ohnehin kaum noch Privatsphäre lassen, warum nicht auch in dieser Beziehung den letzten, verbliebenen und bisher verborgenen Rest des eigenen Lebens nach außen kehren. Zögerlich bejahe ich die Frage, um es im gleichen Moment schon zu bereuen. Denn Luke entfährt ein lautes, ungeheuer selbstsicher klingendes „Yes!“ Vor Schreck lasse ich den Teller fast fallen, murmele ein langgezogenes „Oookaaay ...“ vor mich hin. „Oh, das war wohl etwas zu offensichtlich“, fügt er noch hinzu bevor er wortlos aus der Küche rauscht. Dem bleibt dann selbst mir nichts mehr hinzuzufügen.

Montag, 4. Februar 2008

Samstag, 2. Februar 2008. Holloway.


Da steht Morrissey und singt. Das Lied habe ich noch nie zuvor gehört, aber trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, bin ich zutiefst entzückt. Zum Abschluss eine kurze, wortlose Neckerei mit Showmaster Jonathan Ross und dann ist er hinter der Bühne verschwunden. Ich schaffe es gerade noch, den Fernseher auszuschalten und schlafe schließlich mit der Gewissheit, die letzte Nacht in Charlton zu verbringen, und Morrisseys neuer Single im Ohr ein.

Am Morgen kann ich es kaum erwarten, meinen Koffer wieder zu schließen und mich auf meinen endgültigen Weg nach London und in meine neue Bleibe für die nächsten Monate zu machen. Bereits um kurz nach neun stehe ich am Bahnhof London Bridge und beschließe, mir einmal die Dekadenz einer Taxifahrt durch London zu leisten. Um halb zehn und um 16 Pfund erleichtert stehe ich dann vor dem großen, aus gelben Backsteinen gefertigten Studentenwohnheim. Ich bin viel zu früh und stelle mich bereits darauf ein, noch einige Zeit warten zu müssen bis ich mein Zimmer beziehen kann. Doch der überaus freundliche und humorvolle Mann an der Rezeption händigt mir sofort Schlüssel für sämtliche Türen und einen Willkommensumschlag aus und heißt mich als neue Einwohnerin willkommen. Mit dem Fahrstuhl fahre ich in den ersten Stock und folge einem langen, engen und kahlen Gang bis ich meine Wohnungstür mit der Nummer zwölf erreiche. Vorsichtig schließe ich auf und trete ein. Der Flur ist klein und die Türen tragen die Nummern eins bis vier. Wenigstens bin ich nur mit drei anderen Stundenten zusammen und nicht mit fünf, denke ich und horche. Nichts und niemand ist zu hören und so öffne ich langsam die Tür zu meinem Zimmer. Nach dem zellenartigen Hotelzimmer in Charlton, in dem ich mich nach einer Woche sogar fast schon ein bisschen heimisch gefühlt habe, sind meine Erwartungen ohnehin auf ein Minimum gesunken. Ich schätze den Raum auf etwa zehn Quadratmeter. Bett, Nachtschrank, Tisch, Stuhl, Wandregal, Pinnwand, Kleiderschrank mit integriertem Waschbecken. Klassisch sporadisch. Was mein Herz jedoch höher schlagen lässt, ist das große quadratische Fenster, das direkt an der Ostseite des Gebäudes und somit an der Parkhurst Road liegt. Schon stelle ich mir vor, wie ich abends auf der breiten Fensterbank sitzen und in die Londoner Nacht hinaus schauen werde. Leise trete ich aus meinem Zimmer, um den Rest der Wohnung zu inspizieren. Eine Schwingtür führt in die Küche, die ich am liebsten sofort wieder verlassen möchte. Unordentlich und unaufgeräumt ist ja das eine, aber die Küche ist vollkommen verdreckt und es fällt mir schwer, mir vorzustellen, jemals etwas in ihr zu kochen. Im Bad sieht es nicht viel besser aus. Der Dreck in den Ecken kommt durch das grelle Neonlicht nur noch besser zur Geltung und mir wird klar, dass ich meine langen Warmduscher-Angewohnheiten fortan werde ändern müssen. Unschlüssig gehe ich wieder zurück in mein Zimmer, überlege, womit ich anfangen soll, um in diesem Raum ein Heimatgefühl herzustellen. Plötzlich höre ich Stimmen aus der Küche und beschließe, dass es wohl das beste sein wird, mich meinen zukünftige Mitbewohnern, mit denen ich nun immerhin über vier Monate auskommen muss, sofort vorzustellen. Als ich die Tür öffne, schauen mich ein Mädchen, eine Frau und ein Mann überrascht an. Das Mädchen stellt sich als Alice vor und erzählt mir, dass ihre Mutter und ein Freund die letzte Nacht hier verbracht haben und alle vom Abend zuvor noch ziemlich fertig seien. Ihre Mutter fragt mich, ob ich gerne abends weggehe und feiere, ihre Tochter nämlich sei ein echtes „partyanimal“. Als ich zögerlich nicke, verdreht sie bloß die Augen: „Oh dear!“ Auch ich verdrehe innerlich die Augen und fürchte, dass die kommende Zeit nicht nur in universitärer Hinsicht hart wird. Mir fällt auf, dass ich noch einige Besorgungen für mein Zimmer machen muss und so gehe ich als erstes zu Argos, um Bettdecke und Kopfkissen zu kaufen. Orientierungslos stehe ich in dem überraschend leeren Laden. Leer insofern, als dass es keinerlei Regale gibt, aus denen man etwas entnehmen könnte, also auch kein Bettzeug. Ich beobachte die anderen Leute, wobei mir drei riesige Schilder ins Auge fallen: 1. ORDER, 2. PAY, 3. GET YOUR ITEMS. In dem Bereich, über dem das erste Schild hängt, sind Plätze mit Katalogen und einem elektronischen Gerät, das aussieht wie ein großer Taschenrechner platziert. Ich blättere durch den Katalog und finde schließlich, wonach ich suche. Der große Taschenrechner zeigt an, dass ich bitte die Katalognummer meiner Artikel eingeben soll, was ich tue. Daraufhin erscheint die Information, dass noch drei Bettdecken und vier Kopfkissen der Sorte da sind, die ich bevorzuge. Aha, denke ich, und bin so schlau wie zuvor. Ich entdecke neben mir einige Zettel, auf denen ich die Katalognummern eintragen kann und stelle mich damit in die Schlange unter dem zweiten Schild, in der Hoffnung, das richtige Procedere zu durchlaufen. Schließlich bin ich an der Reihe und zahle. Wenige Minuten später wird meine Rechnungsnummer aufgerufen und ich kann meine Ware unter dem dritten Schild entgegen nehmen. Gar nicht mal so schwer, denke ich, und bin unglaublich stolz, diesen Einkauf so schnell gemeistert zu haben. Kaum bin ich wieder zurück im Wohnheim und dabei, eine Liste der Dinge zu erstellen, die ich noch benötigte, kommt Alice in mein Zimmer gerauscht, setzt sich und fängt an, mich über alles mögliche auszufragen. Nebenbei zeigt sie keinerlei Scheu, Dinge aus meinem Koffer oder vom Nachtschrank zu nehmen diese zu inspizieren. Es scheint das beste, beschließe ich, meine Zimmertür zukünftig wirklich immer geschlossen zu halten. Nicht dass ich ein Problem damit habe, wenn andere Leute sich mein Hab und Gut anschauen, aber ein Mädchen, dass bereits wenige Minuten nachdem wir uns kennen gelernt haben, ungefragt in meinen Sachen wühlt, ist doch etwas zu viel. Als sie meine Liste sieht, schlägt sie mir sofort vor, mich zu einem Pennyshop zu begleiten, in dem ich das meiste davon günstig kriegen kann. Ich willige dankend ein, in der Gewissheit dass ihr Vorschlag ohnehin mehr einer Entscheidung ihrerseits als einer wirklichen Wahlmöglichkeit für mich gleicht. Und in der Tat, es gibt in England Läden, in denen man das ein oder andere sogar günstiger bekommt als in Deutschland. Nachdem ich hinterher noch gleich durch den ansässigen MORRISONS Markt gejagt wurden bin, geht es vollbepackt zurück ins Wohnheim, wo ich endlich damit beginnen kann, dem kahlen Raum etwas Farbe zu verleihen.




Mittwoch, 30. Januar 2008. Charlton.

„Life is very long when you’re lonely ...“
In der Tat bekomme ich langsam das Gefühl, dass die Tage in London immer länger werden. Während sie mir auf meinen ständigen Kurztrips davon zu rennen schienen, frage ich mich nun jeden Abend, wie ich wohl die nächsten 24 Stunden füllen soll, und das möglichst auch noch, ohne viel Geld auszugeben, was bedeutet, dass Shopping in diesem Fall auch keine Lösung ist. Es ist ja die eine Sache, einige Tage alleine daheim zu sitzen, jedoch in dem Bewusstsein, theoretisch jederzeit jemanden anrufen zu können, um ein Treffen zu vereinbaren. Es ist eine völlig andere Sache, alleine in einer fremden Stadt zu sitzen und zu wissen, dass im Grunde niemand da ist, den man erreichen kann, wenn man sich ein wenig Gesellschaft wünscht. Natürlich weiß ich, dass mein momentaner Zustand nur noch von kurzer Dauer sein wird – in drei Tagen ziehe ich endlich in mein Studentenwohnheim, das nicht nur zentraler liegt und mir somit ermöglicht, jederzeit am Londoner Leben teilnehmen zu können, sondern das ich mir mit drei bis fünf anderen Studenten teilen werde, was heißt, dass es in Zukunft also eher schwer sein wird, überhaupt einmal alleine zu sein.



Die viele freie Zeit, die ich scheinbar sinnlos totschlage, indem ich stundenlang ziellos durch London renne, versuche ich dafür zu nutzen, die Eigenarten dieser Stadt und ihrer Menschen zu erkunden. Als erstes fällt einem wohl auf, wie unglaublich dreckig es hier ist. Nun ist Charlton ohnehin noch dreckiger als wahrscheinlich der Rest Londons, was sich zum Teil mit dem hier angesiedelten riesigen Industriegebiet erklären lassen mag, doch auch Massen an ganz alltäglichem Müll finden sich überall – und das in ganz London. Vielleicht kann man den Menschen aber nicht einmal Vorwürfe machen, dass sie ihren Abfall in die Gegend werfen, Mülleimer nämlich sind in London ein rares Gut. Seit sie nach den Terroranschlägen aus den Bahnhöfen und U-Bahn Stationen verbannt wurden, scheint es sie nur noch vereinzelt an den Ein- und Ausgängen zu geben und hat man einmal innerhalb der Stadt Müll produziert, wird es schwer, diesen schnell wieder loszuwerden. So habe ich erst heute Morgen meine Zeitung einmal quer durch die Stadt tragen müssen, bis ich mich ihrer an der Holloway Road endlich entledigen konnte. Was die Entsorgung der Zeitungen anbelangt, diese erfolgt vorzugsweise einfach durch das Liegenlassen in der Tube. Und zu entsorgen gibt es an Zeitungen eine Menge in London. Im Gegensatz zu Deutschland haben sich kostenlose Blätter, die sich alleine durch Anzeigen finanzieren, in England längst etabliert und so ist es schwierig, sich an einem Morgen nicht die METRO und am Abend nicht die LITE oder thelondonpaper andrehen zu lassen. Die Inhalte dieser Zeitungen beschränken sich fast ausschließlich auf Großbritannien, was einmal wieder das große Interesse der Briten an anderen Nationen zum Ausdruck bringt. Und in keiner Ausgabe fehlen darf eine Doppelseite darüber, welcher Promi am Tag zuvor wieder wo und wobei gesichtet wurde in London. Auf diese Weise erfährt man zum Beispiel, dass man Jude Law am vorigen Morgen um 11:00 bei einem Spaziergang durch Notting Hill verpasst hat, Kate Moss, wie sie sich am Abend zuvor in Hampstead den neuen Johnny Depp Film angeschaut hat oder Moby, der sich zur besten Rush Hour Zeit als Straßenmusiker am Sloane Square postiert hat.
Dass London in Sachen Musik mehr zu bieten hat als wahrscheinlich jede andere Stadt der Welt, ist ohnehin bekannt. Aber irgendwie scheinen die Briten auch mit einem Gen ausgestattet zu sein, dass ihnen nicht nur eine große Liebe zur Musik ganz allgemein, sondern größtenteils auch einen unglaublich guten Geschmack diesbezüglich beschert. Es spricht ja schon für sich, dass sich zwei so große Ketten wie Virgin und HMV hier halten können, in deren Stores sich an CD’s, Vinyl, DVD’s, Noten, Musikbüchern und –zeitschriften alles finden lässt, was das Herz begehrt (selbst Tonträger, die in Deutschland nur noch mit viel Glück in Secondhandläden gefunden werden können und deshalb schon fast als Raritäten gelten, stehen hier noch original verschweißt in den Regalen). Aber auch in Supermärkten, Cafés und anderen Läden ist es nahezu unmöglich, sich länger als 15 Minuten aufzuhalten, ohne dass nicht ein guter Song läuft: im kleinen Café auf der Holloway Road laufen plötzlich Pulp mit „Common People“, aus einem Sportbekleidungsgeschäft dringt laut Razorlight’s „America“ auf die Straße, während es draußen stürmt und regnet, wird bei Waterstone’s „Good Day Sunshine“ von den Beatles gespielt und selbst in dem riesigen ASDA Supermarkt bei mir um die Ecke kann ich zu den Thrills einkaufen gehen. Einkaufen in London überfordert mich derzeit ehrlich gesagt noch etwas. Ich kenne die Produkte und Marken nicht und während ich dabei bin, zu überlegen, was ich nehmen soll, habe ich das Gefühl, allen anderen Leuten nur im Wege zu stehen, die sich mit ihren mit Supersize-Produkten vollbeladenen Einkaufswagen an mir vorbei drängen. Besonders schwierig wird es an den Süßwarenregalen. All die Törtchen, Kekse, Schokoladen- und Karamellschnitten sehen so verführerisch aus, dass man das Obst, den Käse und das Brot am liebsten wieder zurücklegen möchte. Und wenn dann noch das honiggelbe Poohbär-Gesicht von einer der Packungen auf mich hinunterlacht, ist ohnehin alles verloren. Für die Zukunft habe ich mir daher vorgenommen, von vorneherein einen Bogen um jene Regale zu machen. Schaut man sich einen großen Teil der Briten an, speziell der Britinnen, dürfte das allerdings auch Ansporn genug sein, stark zu bleiben.